Vor Kurzem war ich in Mailand. Mein Mann hatte mich eingeladen, seine Freunde zu besuchen – eine ecuadorianische Familie, die seit Jahren in Italien lebt. Ich freute mich: Dolce Vita, gutes Essen, freundliche Menschen.
Zwischen Pasta, Partys und ganz viel Trubel lernte ich auch eine neue Art des Familienlebens kennen – eine, die mich zuerst überforderte und dann zum Nachdenken brachte.
Schon am ersten Abend, einem Geburtstag in der Grossfamilie, wurde mir klar: Hier ticken die Uhren anders. Nicht nur ein bisschen. Ganz anders.
Es lief laute Musik und die kleine Wohnung war voll – Menschen aller Altersgruppen, von Neugeborenen bis zu den Grosseltern. Kinder wuselten durch alle Räume, stritten, lachten, schrien, schleckten Glacé, prügelten sich, trugen Babys durch die Gegend, warfen Spielzeug herum, ruinierten ihre schönen Kleider und flitzten auch noch haarscharf an einem Tisch mit Gläsern vorbei. Ich war angespannt. Mein Blick sprang von Kind zu Kind, von potenziellem Unfallherd zum nächsten Chaosmoment. Doch niemand sonst schien nervös zu sein.
Im Gegenteil: Die Erwachsenen plauderten entspannt, nippten an ihren Getränken, lachten, tanzten, sangen. Niemand rannte dauernd seinem Kind hinterher. Niemand unterbrach das Gespräch, um eine Banane zu schälen oder einen Konflikt zu schlichten. Es war laut, chaotisch – und doch irgendwie friedlich.
Ich war irritiert. In meinem Umfeld wäre schon lange jemand aufgestanden, um Ordnung ins Geschehen zu bringen. Um zu erziehen. Hier aber – nichts dergleichen. Und noch überraschender: Die Kinder kommen damit klar. Sie regeln ihre Dinge selbst, holen sich, was sie brauchen, und wenn mal was passiert, flackert kurz ein Blick, eine Träne vielleicht – und dann geht’s weiter.
An den nächsten Tagen das Gleiche. Ein Essen bei Freunden, ein Ausflug in die Stadt, Wocheneinkauf, sogar beim Apero in einer Bar – Kinder überall. Und überall willkommen. Niemand wurde weggeschickt, niemand sollte ruhig sein, niemand wurde früh nach Hause gebracht, weil sie "um acht Uhr ins Bett müssen". Die Kinder sind einfach mit dabei. Punkt.
Ich beobachtete das alles mit einer Mischung aus Staunen, Überforderung und – ja – Urteil. In mir tobte ein Reflex: Das ist doch keine Erziehung! So wird das doch nichts!
Aber je länger ich dabei war, desto mehr verschob sich meine Perspektive.
Denn was ich auch sah: Kinder, die frei und selbstständig waren. Die nicht bei jedem Piep von Mama getröstet oder von Papa abgelenkt wurden. Kinder, die Konflikte aushalten, sich selber versorgen, sich gegenseitig organisieren.
Und Eltern, die entspannt wirkten: Erwachsene, die arbeiten, lachen, politisieren, feiern, spontan etwas unternehmen – und irgendwie nebenbei noch Eltern sind. Ein entscheidender Faktor ist dabei sicherlich auch nicht unwichtig: Bei dem unglaublich grossen Familien- und Freundeskreis ist immer - wirklich immer - irgendein Gäumer verfügbar - auch spontan und ohne Voranmeldung.
In unseren Breitengraden kommt es mir manchmal so vor, als würde das eigene Leben stillstehen, sobald ein Kind kommt. Alles richtet sich nach dem kleinen Menschen, was ja schön ist – aber auch belastend, und noch mehr, wenn man auf sich allein gestellt ist.
Zusätzlich nehme ich wahr, dass Kinder nicht selten als Störfaktor wahrgenommen werden, sobald man mit ihnen vor die Haustür tritt. Sei es im Bus, im Restaurant, an einem geselligen Anlass oder in den Ferien. Die Kinder müssen schlafen, essen, still sein, funktionieren – zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Und wehe, sie tanzen aus der Reihe. Dann wird sich entschuldigt, gerechtfertigt, beschämt gelächelt.
Es ist, als hätten wir verlernt, Kinder als Teil des öffentlichen Lebens zu akzeptieren – mit all ihrem Lärm, ihrem Durcheinander, ihrer Lebendigkeit.
Bei unseren Freunden in Mailand? Da stellt sich die Frage gar nicht. Die Kinder gehören einfach dazu. Umgeben von Musik, Gesprächen, Essen, Chaos – und Liebe.
Eine perfekte Erziehung gibt es bekanntlich nicht. Wie viele Freiheiten sind zu viele? Wie streng ist zu streng?
Ob ich den Erziehungsstil „alla Milanese“ genau so übernehmen würde? Vermutlich nicht. Aber ich habe etwas mitgenommen: Vielleicht müssen wir nicht alles planen, nicht alles kontrollieren, nicht immer alles richtig machen. Vielleicht dürfen wir auch einfach leben – mit den Kindern zusammen, nicht um sie herum. Vielleicht wäre das ein Anfang.
Hinweis der Autorin: Ich schreibe diesen Text als aussenstehende Beobachterin - mit Respekt und Neugier. Nicht um zu urteilen, sondern um zu teilen, was ich erlebt und daraus geschlussfolgert habe. Vielleicht lädt er zum Nachdenken ein – vielleicht auch zum Widerspruch. Beides ist willkommen.