Die Frau mit dem Magenbrot

Die Frau mit dem Magenbrot

Der Zug war fast leer an diesem Nachmittag.
Nur ein älteres Ehepaar stieg ein – langsam, vorsichtig, mit Bedacht.

Sie trug eine graue Daunenjacke über einem gelben Cardigan. Er ein kariertes Hemd, dessen Knöpfe durch den Bauch etwas strapaziert wurden und in eine dunkelrote Cordhose gesteckt war. 
Nachdem sie sich gesetzt hatten, suchte sie gleich ihr Portemonnaie, um das Billett zeigen zu können, wenn der Kondukteur kommt.
Er schnaubte: „Warum musst du das immer ganz unten verstauen?“
„Damit es nicht gestohlen wird“, antwortete sie freundlich.
"So ein Quatsch." Er lachte verächtlich und laut. 
Sie ignorierte die Demütigung.

Er sass rückwärts, sie ihm gegenüber.
Kaum fuhr der Zug los, verzog er das Gesicht. „Ich kann nicht rückwärts fahren.“
Sie verstand sofort: „Dann tausch ich mit dir.“
Langsam stand sie auf, drehte sie sich, mühsam, der Körper suchte das Gleichgewicht, die Hände tasteten nach Halt.
Er verdrehte die Augen.
„Jetzt mach doch endlich und stell dich nicht so an!“
Kein Danke. 
Als sie schliesslich sass, lächelte sie und schaute aus dem Fenster: "Schau mal, wie schön der Wald ist."
Keine Antwort.

Eine Weile schwiegen sie. Der Zug fuhr weiter. Landschaften zogen vorbei.
Sie kramte in ihrer Handtasche und holte ein kleines Säckchen hervor.
Magenbrot.
Sie brach es in Stücke, reichte ihm eines über den Tisch.
Er griff danach und seine Stimme wurde sofort wieder laut: „Warum gibst du mir so kleine Stücke?“
Sie antwortete liebevoll: „Dann nimm halt zwei.“

Sie sah wieder aus dem Fenster. Der See glitzerte. Die Wälder boten ein prachtvolles Farbspiel an diesem goldenen Herbsttag.
Zwischen ihnen lag ein Papiersäckchen mit süssem Magenbrot und zu viel Bitterkeit in der Luft.

Als der Zug am Bahnhof einfuhr, stand er auf und begab sich auf direktem Weg zur Tür.
Kein Blick zurück.

Langsam, etwas wackelig, richtete sie sich ebenfalls auf.
Ihre Hand suchte Halt am Sitz.
Sie schaute sich lächelnd um – mit Augen, in denen Güte und Traurigkeit nebeneinander wohnten.
Dann nahm sie ihr Säckchen Magenbrot und ihr Portemonnaie,
stopfte beides zurück in die Tasche – ganz unten,
damit es nicht gestohlen wird.


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